«Ich bin froh, dass ich die Geschichten erzählen kann, damit es unter das Volk kommt und die Leute eine Vorstellung von meiner Lebenssituation bekommen. Keiner weiss, ob er selber je in eine solche Situation kommt.»
«Aha, ein Aufruf in der Zeitung! Die WEGA sucht Lösliverkäuferinnen und-er.
Da melde ich mich sofort. Ich fahre im Rollstuhl und so, klar, das sage ich denen natürlich. Das ist jetzt doch eine gute Chance für mich, wieder unter die Leute zu kommen und mich auch noch nützlich zu machen.» Aber es kommt anders. Anita bekommt eine Absage. Das Lose- und Tombola- Büro sei nicht rollstuhlgängig.
«Das finde ich jetzt aber total ungerecht! Das verschlägt mir gleich die Sprache! Die haben wieder nicht kapiert, dass es einfach sooo wichtig wäre, dass diese ganze Organisation auch für Leute im Rollstuhl sein sollte. Das muss einfach sein. Alles andere ist nicht fair und nicht menschenfreundlich und die Begründung, wegen der gemieteten Räumlichkeiten während der Wega, darum nicht zugänglich, finde ich auch überhaupt nicht richtig. Ich fühle mich schon wieder so ungerecht behandelt! Ich hätte doch Zeit und könnte so viel mithelfen. Ich schreibe denen jetzt einen Brief!»
Anita spürt nach dem erfolgreichen Sternenmarsch so viel Mut und Optimismus. «Da haben doch so viele Menschen auf ihre besonderen Bedürfnisse aufmerksam gemacht und es waren wirklich viele, 770 Menschen auf dem Weinfelder Marktplatz.» Das hat sie beeindruckt. Und danach hatte sie diese Absage gelesen. «Das hat mich so getroffen, hatte wieder überall diese Verspannungen. Ich möchte mich doch einbringen! Im Marktwesen, so komme ich unter Menschen und ich möchte mich selber managen.» Sie hat bis heute noch keine Antwort auf ihren Brief an die Wega Verantwortlichen bekommen.
Wir nutzen die Zeit und Anita erzählt mir von ihren Erfahrungen, wie sie es anstellt, damit sie unter die Leute kommt. «Mobil sein wird für mich immer schwieriger. Die Automaten werden abgeschafft, gut ich habe ein GA, das hilft schon. Aber ich habe kein Handy, seit dem 5. November 2022. Ich will keines mehr. Meine Finger sind nicht dafür geeignet und meine Augen eben auch nicht. Ich sehe nicht koordiniert, alles verschwimmt. Auf der Strasse, oder im Zug telefonieren finde ich sowieso blöd, so kontaktlos. Wir hatten Besuch von der pro Infirmis und der Fachhochschule St. Gallen. Sie fragten uns, was wir benutzen und besitzen. Ich habe nur den Radio und ein Telefon im Zimmer. Ich schreibe handgeschriebene Briefe. Die neuen Medien kann ich nicht benutzen. Bevor ich etwas unternehme, muss ich alles abfahren und testen.
Ich muss auf viele Dinge verzichten! Zum Beispiel singen im Chor oder Konzertbesuche oder Abendveranstaltungen oder Abendkurse oder Abendtermine, das meiste findet ja am Abend statt für Erwachsene. Warum? Ja eben, weil die Türen zu eng sind für den Rollstuhl, oder Perrons nicht bündig sind, oder die Züge plötzlich doch anders fahren. Oder, weil ich schon um 19:20 Uhr im Bett sein muss. Ich wohne ja im Altesheim. Das pflegende Personal ist nicht immer in der Lage mich richtig zu versorgen. Mir fehlt die menschliche Beziehung.»
Es war ein altes Postauto. «Ich finde die Veranstalter der Wega sollten mal selber in einem Rollstuhl sitzen. Die Postautochauffeure mussten das auch. Letztens war ich in St. Gallen, da hat sich eine Busfahrerin bei mir entschuldigt, sie wäre etwas im Stress. Ich dachte, jetzt hat sie es gemerkt, dass sie im Fehler war und nicht ich. Sie hatte mich vorher angeschnauzt, weil es so lange dauerte, bis ich am Platz war. Es war ein altes Postauto.
Letzte Woche fuhr ich mit dem Postauto von Weinfelden nach Stein am Rhein. Weinfelden-Frauenfeld-Stein am Rhein. Ca. 3 Stunden dauerte die Hinfahrt. Der Zug fiel aus. Der Tipp war, gehen sie mit dem IC oder dem IR. Ich sagte; das geht nicht, ich muss mich 2 Tage vorher anmelden. Dann sagte sie; gehen sie auf den Bus 09:09 Uhr, ich soll an der Haltestelle warten. Doch der Bus fuhr an einer anderen Stelle ab, ich konnte nur noch winken. Also ging ich mit dem Postauto 09:39 Uhr. Manchmal fährt mich eine Privatperson mit dem Auto, doch sie war verhindert.
Ich konnte dann bis um 16 Uhr im Kurs bleiben und meine Töpferarbeit fertig machen. Dummerweise ging sie dann noch in die Brüche, weil mein Rollstuhl den Tisch aufbockte.
Ich trug es mit Fassung. Ich habe schlussendlich eine schöne Schale mit roten Herbstblättern gemacht. Die Kursleiterin brennt sie noch für mich.» Anita verliert ihren Humor und ihren Schalk nicht.
«Ich bin froh, dass ich die Geschichten erzählen kann, damit es unter das Volk kommt und die Leute eine Vorstellung von meiner Lebenssituation bekommen. Keiner weiss, ob er selber je in eine solche Situation kommt.»
Interview 19.10.2023
Anita Peter, Kommunikatorin, Organisatorin, Widerständige, Rollstuhlfahrerin
Charlotte Mäder, TAB F&B Stellenleiterin, Brückenbauerin, Künstlerin
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